Meine neue Nachbarin ist jung - 18, vielleicht 19 Jahre alt.
Sie ist zierlich, hat blaue Augen und schwarze Dreadlocks, die sie zusammengebunden trägt. Ihren Namen kenne ich nicht.
Meine neue Nachbarin wohnt hier seit einem Monat, zusammen mit ihrem Freund.
Gesehen habe ich meine neue Nachbarin zum ersten Mal Mittwoch abends.

Sie kauert vorm Hauseingang. Eigentlich liegt sie eher am Boden, mit dem Kopf an der Tür gelehnt. Mit einer Hand versucht sie die das Schlüsselloch zu finden, doch ihr Arm tut nicht das, was sie anscheinend von ihm will.
Sie bemerkt mich erst, als ich mich zu ihr runterbücke. Sie sieht mich an, spricht, zumindest versucht sie es.
Ich will wegrennen, dann öffne ich die Tür.
Im hellen Stiegenhaus kann ich ihr Gesicht sehen, ihre blauen Lippen, und ihre graue Haut, überall diese graue Haut. Sogar ihre Hände sind grau, unter all dem Schmutz. Ich gehe hinter ihr her, rede auf sie ein. Die Antworten, die ich auf meine Fragen bekomme, verstehe ich nicht. Bloß einmal glaube ich dritter Stock zu hören. Ihre Beine geben immer wieder nach, sie schleppt sich einfach gerade aus weiter bis hin zur Kellerstiege.
Ich kann mit so etwas nicht umgehen. Ich schiebe sie in den Lift, wähle das Stockwerk.
Durch das schmale Fenster in der geschlossenen Aufzugstüre sehe ich, wie sie in die Knie geht. Dann ist sie weg.
Am Postkasten lasse ich mir Zeit, oben geht die Lifttür auf.
Ich nehme sonst immer den Lift.
3. Stock. Bitte sei nicht mehr da.
Ich will einfach weitergehen, dann blicke ich nach rechts.
Meine neue Nachbarin kniet dort vor ihrer Wohnung, mit verdrehten Beinen, den Kopf an der Tür.
Lacht sie?
Ich ziehe das Band, an dem ihr Schlüsselbund hängt, unter ihr hervor, sie spricht immer weiter, ich verstehe weiter nichts. Und will nichts verstehen. Nur weg hier. Soll ich jemanden anrufen? Soll ich jemanden anrufen? Soll ich die Rettung rufen? - Nein, nicht. Natürlich nicht. Soll ich jemanden anrufen? Kann ich irgendwas machen?
Ich packe sie an den Schultern, versuche, sie in ihre Wohnung zu lenken.
Sie steht, Gott sei Dank. Ich verabschiede mich, mach einen Schritt zurück.
Sie bleibt aufrecht, lehnt sich an den Türstock. Plötzlich sieht sie mich an, zum ersten Mal.
Sie streckt mir ihre Arme entgegen: Ich will dich umarmen bitte..., kommt es jetzt deutlich aus ihrem blauschwarzen Mund. Nein.
Nein.
Ich dreh mich um und renne weiter hinauf zu meiner Wohnung. Ich höre, wie sich ihre Haustür schließt.
Fünf Minuten später bin ich im Lokal im Erdgeschoß, treffe dort E. und erzähle ihm von dem Mädchen, von der grauen Haut, den blauen Lippen, den Knien. E. kennt sie bereits, er wohnt direkt neben ihr. Wir fahren wieder hinauf, klopfen an ihre Tür. Nichts. Dann höre ich sie, sie kommt in unsere Richtung. Ich atme aus. Sie macht die Tür auf, steht aufrecht da. Mir gehts gut. Mir gehts gut.
Wir gehen wieder.
E. hört sie immer weinen, meint er noch. Und ihr Freund-naja.....egal.

Gestern abend hab ich sie wieder gehört. Ich wollte gerade hinunter gehen, blieb stehen und horchte. Zum Öffnen der Türe brauchte sie eine Ewigkeit.
Im Lift roch es wieder nach kaltem Rauch und diesem Parfum.


Ich sitze hier auf meinem Bett,
in meiner warmen Wohnung und trinke
schwarzen Tee mit Milch und Zucker.
Meine neue Nachbarin macht
sich ein paar Meter unter mir
kaputt.